Persönliche Stärken


16. Februar 2023

Ina Deicke
Stärken ausdrücken

Wenn Sie nach Ihren Stärken gefragt werden, können Sie ganz selbstverständlich die vier bis sechs wesentlichen benennen und beschreiben? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie Ihre Stärken zueinander in Beziehung stehen? Was empfinden Sie, wenn Sie aus dieser Quelle schöpfen?

Im Coaching erlebe ich, wie ein offener und klarer Blick auf persönliche Stärken bisweilen Irritation auslösen kann: „Hmm … Schwächen könnte ich sofort einige nennen.“

Wie kommt es, dass wir das, was uns wenig nützt, sofort auf dem Schirm haben und beim Wichtigen erstmal zu suchen beginnen?

Manche meiner Kundinnen und Kunden kommen explizit mit dieser Fragestellung ins Coaching: „Wie kann ich mehr über meine Stärken erfahren? Ich weiß nicht genau, welche das sind. Und ich möchte an meinen Schwächen arbeiten …“

Was sind Stärken überhaupt?

Ich begreife Stärken als Teil der Persönlichkeitskräfte. Jeder Mensch hat ein einzigartiges Muster. Wenn es uns gelingt, Stärken bewusst einzusetzen und miteinander zu kombinieren, werden die Schwächen abgeschwächt und irgendwann sogar irrelevant.

In der Literatur finden sich unterschiedliche Definitionen. Im Sinne eines alltagspraktischen Verständnisses fasse ich Stärken als inhärente Muster von Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen. Wenn wir diese Muster ausagieren, empfinden wir das als belebend oder energetisierend. Die Dinge gelingen leicht. Wir fühlen uns im Flow.

Weil Stärken zum Wesenskern gehören, erscheint das Bedürfnis folgerichtig, sie zu erkunden und auszudrücken. Es beflügelt uns zusätzlich, wenn diese Art von Ausdruck positive Resonanz findet.

Andererseits fühlen wir uns unzufrieden und frustriert, wenn wir sie nicht einbringen können, wenn sie da, wo wir wirken wollen, einfach nicht gefragt sind.

Stärken, Begabungen, Fähigkeiten?

Im Coaching steht immer wieder die Frage nach dem Unterscheiden von Stärken, Begabungen, Talenten und Fähigkeiten im Raum.

Begabung oder Talent bezeichnet einen Aspekt einer Person, der zu einer besonderen Leistungsfähigkeit auf einem bestimmten Gebiet beiträgt, eine Art besondere Anlage oder ein angeborenes Potenzial – unabhängig davon, ob die Begabung genutzt oder entwickelt wird. Wird das Nutzen der Begabung nicht wirklich als freudvoll und energetisierend empfunden, handelt es sich eher nicht um eine Stärke.

Fähigkeiten oder Kompetenzen beziehen sich auf erlerntes und anwendungsbereites Wissen oder Verhalten. Wenn ich meine Fähigkeiten einsetze, kann ich vielleicht feststellen, dass ich in bestimmten Bereichen etwas besser kann als andere Menschen, doch ich werde das Gefühl von Energetisierung vermissen.

Wir könnten auch sagen: Stärken beschreiben, wer ich bin. Fähigkeiten beschreiben, was ich kann.

Stärken haben eine gewisse Nähe zu Interessen, doch Interessen allein erzeugen keine Handlungsimpulse im Sinne der inneren Dringlichkeit, diese Interessen auch zu verfolgen. Da, wo sich Stärken und Interessen berühren, betreten wir ein fruchtbares Feld.

Wann ist eine Schwäche eine Schwäche?

Stärken wie Schwächen beschreiben nichts Absolutes, sondern etwas Relatives: Etwas in Bezug auf etwas anderes.

Wenn mir Menschen begegnen, die an ihren Schwächen arbeiten wollen, frage ich nach, was genau sie damit meinen. Ich frage auch, inwieweit es sinnvoll erscheint, verhältnismäßig viel Energie in etwas zu investieren, das womöglich zu einem durchschnittlichen Ergebnis führt und was passieren würde, wenn dieselbe Menge Energie in eine Richtung gelenkt würde, die Begeisterung freisetzen kann.

Manchmal bewerten wir etwas als Schwäche, was bei näherer Betrachtung gar keine ist und sogar eine fulminante Wandlung hin zu einer Stärke erfährt. Wenn z.B. eine Person ihre Feinfühligkeit als eine Schwäche auffasst, nach und nach jedoch entdeckt, wie hilfreich diese Feinfühligkeit in ganz unterschiedlichen Situationen schon gewesen ist und dann noch bemerkt, dass daraus in bestimmten Konstellationen sogar Vorteile erwachsen – dann verändert sich der eigene Blick: Das Feingefühl wird als Qualität erkannt.

Den Blick öffnen

Warum fällt es uns so schwer die eigenen Stärken zu erkennen?

Ich denke, wenn wir etwas ganz aus uns selbst heraus immer wieder tun und Freude dabei empfinden, stärken wir unsere Stärken auf natürliche Weise. Es scheint uns selbstverständlich, bleibt jedoch unbewusst.

Der Blick auf die eigenen Stärken wird klarer, wenn wir schon frühzeitig spezifisches und wertschätzendes Feedback dazu erhalten. Wir erkennen uns selbst in dieser Art von Spiegel.

Tatsächlich leben wir in einer eher feedbackarmen Kultur diesbezüglich. Wir sind besser darüber informiert, was andere Menschen von uns erwarten, als darüber, was andere an uns schätzen.

Zudem begegnen mir noch sehr viele Menschen, die davon überzeugt sind, dass wir durch Kritik (i.S.v. undifferenzierter Rückmeldung dazu, was gerade nicht funktioniert) besser werden.

Solche Rückmeldungen führen die Aufmerksamkeit weg von uns und rufen oft schmerzliche Gefühle hervor. Reflexion, Selbsterkennen und spezifische Rückmeldung dagegen lenken unsere Wahrnehmung zu uns selbst und unseren Stärken.

Wenn wir im Coaching beginnen die Stärken einer Person ins Licht zu heben, beobachte ich zuweilen ein Staunen, so als würde sie fragen: Bin wirklich ich gemeint? Doch im Laufe des Arbeitens darf ich mit schöner Regelmäßigkeit Zeugin einer Art Verwandlung werden: Mein Gegenüber beginnt zu erblühen.

Stärken und Selbstbild

Mit dem Erblühen geht eine Art inneren Aufrichtens einher.

Weil unsere Stärken einen Teil unserer wahren Identität bilden, ist es so wesentlich, darüber Bewusstheit zu entwickeln: Diese wirkt auf unser Selbstbild und stärkt unser Empfinden von Echtheit, Authentizität.

Gleichzeitig bilden die Stärken eine innere Ressource – eine Quelle, zu der wir Zugang haben und aus wir schöpfen können.

Nach der Stärkenarbeit kann der nächste Schritt folgen: Jetzt geht es darum Möglichkeiten zu finden, wie sie kontinuierlich eingesetzt werden können.