Den blinden Fleck beleuchten


27. Oktober 2019

Ina Deicke

Wenn Kunden mit dem Wunsch ins Coaching kommen, mehr über sich selbst und die eigenen Stärken zu erfahren, ist es ja nicht so, dass sie gar keinen Schimmer davon hätten. Manche haben ein ganz gutes Gespür, doch irgendetwas in diesen Menschen wünscht sich eine Art Bestätigung aus einer neutralen Perspektive. Andere empfinden den Zugang zu sich selbst als blockiert und wieder andere brauchen eine strukturierte Anleitung zur Selbstreflexion.

Das ist ganz menschlich, denn wir alle haben einen „blinden Fleck“.

Der blinde Fleck

Der Begriff des blinden Flecks geht zurück auf das Modell des „Johari-Fensters“. Das Modell wurde von den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham entwickelt. Es beschreibt, wie unsere Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale von uns selbst und von anderen wahrgenommen werden und wie der blinde Fleck im Selbstbild eines Menschen zustande kommt.

Hier eine Skizze zum Verständnis:

Johari-Fenster; CC Wikipedia

Öffentlich ist, was eine Person von sich zeigt, also die Anteile der Persönlichkeit, die nach außen sichtbar gemacht und von anderen wahrgenommen werden (u.a. äußere Merkmale, Reaktionen, persönliche Eigenschaften, Einstellungen …).

In manchen Abbildungen zum Johari-Fenster ist dieser Quadrant im Vergleich zu den anderen kleiner abgebildet, um zu signalisieren, dass die nichtbewussten Aspekte der Persönlichkeit (die für die Beziehungen zwischen Menschen bestimmend sind) überwiegen.

Geheim ist alles, was einer Person bewusst ist, sie aber anderen entweder unwissentlich nicht zugänglich macht oder bewusst verbirgt.

Unter dem blinden Fleck wird verstanden, was eine Person ausgesendet und von Mitmenschen wahrgenommen wird, ohne dass sich die Person dessen bewusst ist. Das heißt, andere bemerken Verhaltensweisen und Aspekte (wie Stärken), die die Person bei sich selbst nicht wahrnimmt.

Durch Feedback aus dem sozialen Umfeld kann der blinde Fleck erhellt werden.

Unbekannt ist, was weder der Person noch anderen bekannt ist: Unbewusstes und unenthülltes Terrain.

Wenn wir uns Persönlichkeit als ein Eisberg-Modell vorstellen, liegt der weitaus größte Teil des Eisbergs unter Wasser, ist also unbewusst. Und von dort aus wirken viele Faktoren, die die Beziehung eines Menschen zu sich selbst (Selbstbild und Selbstverständnis) und zu anderen Menschen ausmachen.

Wofür wir eine gute Selbstkenntnis brauchen

Wer sich selbst gut kennt, hat viele Vorteile im Leben: Menschen, die sich selbst gut wahrnehmen, wissen um ihre Stärken, Begabungen, Talente. Sie kennen ihre Neigungen und ihre wesentlichen Charaktermerkmale. Sie wissen, wofür sie sich begeistern und wofür eher nicht. Menschen, die sich gut kennen, wissen was ihnen wichtig ist, was sie bewegt und antreibt. Sie wählen sich eher Ziele, die zu ihnen passen, und finden geeignete Wege sich ihren Zielen zu nähern.

Sich selbst gut zu kennen heißt auch, um die eigenen wunden Punkte zu wissen und sinnvolle Heilungsstrategien zu erschließen. Sich selbst gut zu kennen gilt als eine grundlegende Voraussetzung für Erfolg und Zufriedenheit im Leben.

Selbstkenntnis und Selbstverstehen bedürfen ein lebenslanges Forschen in der Absicht, den eigenen blinden Fleck schrumpfen zu lassen. Ich nenne das Entwicklung.

Die meisten Menschen kennen zumindest zwei Situationen aus eigenem Erleben, als ihre Bewusstheit und Selbstkenntnis auf die Probe gestellt wurden: Erinnern Sie sich an die Zeit in Ihrem Leben, als es um Ihre Berufswahl ging? Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Woran haben Sie sich orientiert? Welche Rolle spielte dabei Ihr eigenes Gespür für Ihre Begabungen, Neigungen und Persönlichkeit?

Erinnern Sie sich an eine Phase in Ihrem Leben, als Sie sich stark angespannt und gestresst gefühlt haben? Wie bewusst waren Sie sich in diesen Momenten Ihrer Stärken? Wie gut war Ihr Zugang zu sich selbst? Nach welchen Kriterien haben Sie Entscheidungen getroffen?

In dem Maße wie wir dafür sorgen, dass sich das Areal der Öffentlichen Person – also unsere Selbstbewusstheit – ausdehnen kann, schrumpfen der eigene blinde Fleck, das Verborgene und das Unbekannte.

Für mich klingt das nach einer klaren Einladung zum Reflektieren, Selbstwahrnehmen und Selbsterkennen.